Die Zwanziger Jahre
In der Endphase des Ersten Weltkriegs müssen die drei Bronzeglocken der Hochmeisterkirche an den Staat abgeliefert werden. Dieses Schicksal teilt die Hochmeisterkirche mit vielen anderen Kirchen. Überall in Deutschland wurden Kirchenglocken konfisziert und eingeschmolzen, um aus dem Metall Kriegsmaterial herzustellen.
Im September 1921 erhält die Kirche neue Glocken. Die Inschriften der neuen Stahlglocken sind die gleichen wie die der alten Bronzeglocken.
„Die drei Glocken sind in Bochum aus Stahl gegossen, die Klöppel schlagen mit bronzenen Schlagknöpfen. Die Haupttöne sind e, g a, bei jedem Ton klingen die fein abgestimmten Nebentöne mit, bei jeder die kleinere obere Terz und die größere untere Sexte. Die Glockensprüche sind für die große Glocke (Christusglocke): Evangel. Matth. 23,8: Einer ist euer Meister, Christus; ihr aber seid alle Brüder. - Für die mittlere (Paulusglocke): 1. Korinther 13,13: Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen. - Für die kleine (Osterglocke oder Betglocke): Evangel. Johannes 14,19: Ich lebe und ihr sollt auch leben.“ [13]
Am 11. September 1921 findet die Weihe der neuen Glocken statt. Dies ist gleichzeitig auch der 11. Jahrestag der Kirchweihe.
„Pfarrer Kaiser hielt nach vorhergehendem Gemeindegesang und dem Festgesange des Kirchenchors die Liturgie; hernach trug der Kirchenchor die Bachkantate ‚Dir, Dir Jehova will ich singen‘ vor, nach deren Ausklingen Superintendent Lic. D. Macholz - Teltow die Weiherede unter Zugrundelegung des Bibelwortes ‚Wer Ohren hat zu hören, der höre‘ hielt. Nach Beendigung derselben erschollen brausend die neuen Glocken, während im Gotteshause tiefste Stille herrschte.“ [14]
Nachdem die neuen Glocken installiert sind, werden Besichtigungen des Turms und der Glocken angeboten. Frau Henzgen, die kurze Zeit vorher in der Hochmeisterkirche konfirmiert worden ist, berichtet von solch einer Turmführung und erzählt, dass schon damals im Turm Falken genistet hätten.
1925 feiert die Gemeinde das 15jährige Bestehen ihrer Halenseer Kirche. Da es noch immer kein Halenseer Gemeindehaus gibt, müssen solche Veranstaltungen in anderen Räumlichkeiten stattfinden. Der große Festabend findet so in der überfüllten Aula des Hohenzollernlyzeums statt. Hier ein Bericht über diese Festlichkeiten, der am 26. September 1925 im Berliner Westen zu lesen ist:
„Der erste Teil bot nach einem. feierlichen Orgelspiel einen Vorspruch, von Pfarrer von Schierstedt verfaßt, in dem das treue und zielbewußte Arbeiten unserer Mutter-Kirche nach dem mannigfachen Wirken an den Gestrauchelten, der Jugend, an den Alten, den Kleinrentnern, den Hausangestellten, im evangelischen Bunde, dem Diaspora-Verband, in der inneren Mission, dem Blaukreuzverein, im Frauenhilfsbund u. a. m. geschildert wurde. Darauf brachte der Chor des Hohenzollernlyzeums zwei Gesänge, denen Begrüßungsworte des Pfarrers von Schierstedt folgten. Nach kurzem, gemeinsamem Gesang hielt Pfarrer Kaiser eine kurze Ansprache über das Thema: 15 Jahre Hochmeisterkirche. Zwei Chöre der Mädchenmittelschule beschlossen den ersten Teil der Vortragsfolge.
Der zweite Teil brachte sehr interessante Lichtbilder verbundener Kirchen; als erste die Hochmeister-, dann die alte Wilmersdorfer Dorfkirche, die Dahlemer, die jetzige Auenkirche und die Nikolaikirche in Berlin. Den Höhepunkt des Abends bildete der dritte Teil mit dem zu diesem Kirchweihfest von Pfarrer Kaiser gedichteten Festspiel. Die Bühne war sehr stimmungsvoll mit blauem Samt dekoriert, im Hintergrund der Altar mit Kruzifix und Kerzen. Durch die Mitte des Saales schreiten zwei markige Gestalten in Stahlpanzer, hohen Lanzen. In ihrem Heidentum wird ihnen der Christ genannt, der sie besiegt. In seinem Geiste und in deutscher Art wollen sie in Gottesfurcht ihr Erbgut halten. Der Schirmherr Pfarrer Kaiser reicht ihnen mit mahnenden Worten zwei brennende Kerzen, die sie, dem Christ ergeben, ernst auf den Altar stellen. Jugendliche Stimmen singen liebliche Melodien, während welcher sich das zweite Bild vorbereitet. Drei Boten der Herren von Wilmersdorf in historischer Tracht schreiten durch den Saal zur Bühne. Sie haben im Wappen drei Lilien, und dies Wappen wollen sie auch ,fürder in Ehren halten. In Dahlem, in der alten Dorfkirche ist das letzte Erbbegräbnis der Herren von Wilmersdorf. Auch diese drei Boten nehmen aus des Schirmherrn Hand drei Kerzen, die sie auf dem Altar niederstellen. Hierzu wieder der liebliche Gesang vom Jugendchor Halensee. Da kommen drei Ritter vom Deutschen Orden im weißen Mantel mit dem Kreuz daher. Sie erzählen von ihrer Marienburg und von Tannenberg. Seit 400 Jahren halten sie Hochmeisters Namen in Ehren. Und sie entzünden für den höchsten Meister drei Kerzen auf dem Altar. Inzwischen hört man während der munteren Chorgesänge zwei frische Scholaren Paul Gerhardts (4. Bild) daherkommen. An der ältesten Berliner Kirche, der Nikolaikirche, war Paul Gerhardt 1657 zweiter Pfarrer. Fromm weihen auch sie dem Höchsten ihre Kerzen. Frisch singt der Chor das Liedlein mit dem Kehrreim: ‚Ich fahr in die Welt‘. Und nun stapfen drei Bauern aus dem alten Deutsch-Wilmersdorf (5. Bild) mit ihren Stöcken im langen grünen, blauen und roten Rock durch den Saal zur Bühne. Sie klagen, daß man ihnen das Ackerland nimmt, ob es nun etwa besser würde? Aber schließlich trösten sie sich mit den Worten des Schirmherrn, der auch ihnen die Kerzen zum Lobe des Höchsten reicht. Nun versammelt die Bühne all die Gläubigen. Und zum Schluss singen alle gemeinsam im Saale Luthers ‚Das Wort sie sollen lassen stahn‘. Das Festspiel war einzigartig schön in Idee und Ausführung. Darauf dankte das Mitglied des Gemeindekirchenrats, Ministerialdirektor Dr. Conze, mit warmen Worten allen denen, die sich um die Ausgestaltung des Abends bemüht hatten. Zum Schluß wurde der Saal verdunkelt, und ein Wächter in langem Mantel mit Laterne kommt singend durch den Saal: ‚Hört ihr Herrn und laßt euch sagen...‘ Alle sangen den Vers mit: ‚Menschenwachen kann nichts nützen...‘ - So nahm der wunderschöne Abend sein Ende. Das Kirchweihfest der Hochmeisterkirche hinterließ bei allen einen nachhaltigen Eindruck.“ [15]
Es ist zu dieser Zeit keine Frage mehr, dass ein Gemeindehaus in Halensee dringend benötigt wird. Schon 1920 stand ein größeres Haus in der Joachim-Friedrich-Straße zur Diskussion. Die Erwerbung scheitert damals, weil die Mieter nicht ausziehen wollen und weil die Umbaukosten voraussichtlich sehr hoch wären.
Im September 1926 wird dem Gemeindekirchenrat das Grundstück angeboten, auf dem heute das Gemeindehaus steht. Der Preis „beträgt 49.000 RM und kann und soll aus Kirchensteuer-Überschüssen beglichen werden“ [16], so schreibt der GKR Wilmersdorf ans Konsistorium. Das Konsistorium gibt seine Zustimmung, und noch im selben Monat wird das Grundstück gekauft.
Am 8. Juni 1928 wird die feierliche Grundsteinlegung in der damals üblichen kirchlichen Form mit Bläserchor, Gemeindegesang, Weiherede und den Hammerschlägen durch Honoratioren vollzogen. Am Sonntag, dem 15. September 1929 um 12 Uhr wird das Gemeindehaus der Hochmeisterkirche eingeweiht. In der zu dieser Einweihung erschienenen Festordnung finden sich interessante Fakten zum Bau des Gemeindehauses, insbesondere über die damalige Aufteilung der Räume:
Im Sockelgeschoß befinden sich außer der geräumigen Garderobe fünf Zimmer, von denen drei sowohl für Konfirmandenunterricht als auch für gesellige Veranstaltungen der Gemeinde im kleineren Kreise bestimmt sind außerdem zwei Zimmer der Jugend, in deren einem die Gemeindehelferin am Vormittag Sprechstunden für die kirchliche Wohlfahrtspflege halten soll; endlich eine ausreichend große Teeküche. Alle Zimmer haben besondere Namen: Martin-Luther-Zimmer, Paul-Gerhardt-Zimmer, Johann-Sebastian-Bach-Zimmer, Johann-Hinrich-Wichern-Zimmer und Zimmer der Jugend, sie sollen mit der Zeit charakteristisch ausgeschmückt werden; freiwillige Beträge aus der Gemeinde sind dazu stets willkommen Im Mittelgeschoß befindet sich der große Festsaal, dem ein Vorsaal für die Beratungen der kirchlichen Körperschaften angegliedert ist.
Das Bildwerk auf der Treppe, Christus als Führer, ist ein Werk des Wilmersdorfer Bildhauers Professor Constantin Starck.
In den Obergeschossen befinden sich drei Pfarrwohnungen mit je sechs Zimmern und Zubehör, außerdem je ein Amts-, Warte- und Sekretär-Zimmer. Wir hoffen, daß sich die Gemeinde an ihr Gemeindehaus gewöhnt, es soll die Kirche nicht ersetzen, es soll ihr dienen.
(...) Der Bezirk Halensee umfaßt jetzt etwa 40.000 Evangelische; in ihm dienen drei Pfarrer, ein Hilfsküster, eine Gemeindehelferin, eine Kindergärtnerin, ein Hauswart; freiwillig helfen eine Reihe von kirchlichen Vereinen auf fast allen Gebieten kirchlicher Arbeit.“ [17]
Das Jahr 1929, in dem das Gemeindehaus fertig gestellt und bezogen wird, ist gekennzeichnet von der größten deutschen Wirtschaftskrise und führt zu Verarmung und Verelendung vieler Menschen. Um mit gegen die entstandene Not anzukämpfen, organisiert die Hochmeister-Kirchengemeinde eine so genannte Volksküche.
Frau Hopp, die diese Zeit in der Hochmeister-Kirchengemeinde miterlebt hat, berichtet:
„Die Volksküche muss 1930 oder 1931 entstanden sein. Sie lag in einer Baubude in der Eisenzahnstrasse, in der lange Tische und Bänke vorhanden waren. Im Nebenraum wurde ein großer Kochkessel aufgestellt. Während der Woche gab es meist Eintöpfe, sonntags Gulasch, Bouletten und Kuheuter. Die Kuheuter mussten mindestens vier Stunden lang kochen, dann wurden sie in Scheiben geschnitten und gebraten. Auf diese Weise schmeckten sie fast wie Schweineschnitzel. Jeden Tag konnten dort 40 bis 50 Personen kostenlos essen; die umliegenden Fleischer und Bäcker unterstützten uns. An Feiertagen machte meine Mutter, die in der Paderborner Strasse wohnte, so viele Puddings in Tassenköpfen, dass sie reichten; da waren alle immer besonders begeistert. Jugendliche aus den Jugendgruppen unserer Kirche kamen nachmittags Kartoffeln schälen und Gemüse putzen, dabei schöne Lieder singend. Die Essensausgabe besorgten Damen aus der Gemeinde. Einen festen Tag in der Woche hatte ich, außerdem bin ich eingesprungen, wenn plötzlich jemand absagte. Eine Stundenhilfe, die das Kochen beaufsichtigte, hatten wir auch. Außerdem war da noch die Küsterfrau Jahn, die rührend die Sonntagskocherei im Gemeindehaus machte und dann mit mir und anderen Helferinnen alles Fertige hinübertrug.“ [18]
Seit Bestehen der Hochmeisterkirche und bis in die späten 40er Jahre hat die Gemeinde einen Organisten, Dr. Arthur Böhme. Anlässlich einer zu klärenden Besoldungsfrage schreibt Dr. Böhme am 10. 3. 1930 einen Lebenslauf, der hier auszugsweise wiedergegeben werden soll, da er die vielen Aktivitäten dieses Mannes widerspiegelt:
„Am 9. Mai 1881 zu Berlin geboren, besuchte ich daselbst das Humboldt-Gymnasium bis zur Abiturientenreife. Danach studierte ich Philosophie, Musik und Musikwissenschaft. 1910 trat ich an der Hochmeisterkirche in den Organistendienst der evangelischen Kirchengemeinde zu Wilmersdorf - Berlin, nachdem ich bereits seit 1897 als Hilfsorganist ... tätig war.
Im Jahre 1925 begründete ich mit Herrn Generalsuperintendent D. Burckhart und dem Bibelsprecher Johannes Schulzke die Sonntag-Morgenfeiern im Berliner Rundfunk durch den Evangelischen Presse-Verband, leitete denselben musikalisch und bin bis in letzter Zeit solistisch und als Begleiter an der Orgel daselbst tätig.
Seit 1911 stehe ich als Gesangslehrer höherer Schulen in Berliner städtischen Diensten. Ich veranstaltete in der Hochmeisterkirche sowie in den größten Konzertsälen Berlins Konzerte, die selbst in der Kritik unserer größten Tageszeitungen Anerkennung fanden; neben Aufführungen größerer Chorwerke mit Orchester von Franz Schubert, Franz Liszt, Bruckner etc. leitete ich größere Orchester-Aufführungen mit Orgel, Massenchor, gemischtem Chor und Männerchorgesänge.
An der Hochmeisterkirche amtiere ich seit Bestehen derselben jetzt im 20. Jahr. Am Weltkrieg nahm ich von 1915 bis zum Schluss desselben teil, zog mir u. a. eine schwere Malaria in Mazedonien sowie in den Stockod-Sümpfen in Russland zu, deren Folgen sich erfreulicher Weise zum größten Teil wieder verloren haben. Ich wurde als Leutnant d. R. entlassen.
Dr. Arthur Böhme“ [19]
13. Gottesdienstzettel vom 11. September 1921, Archiv Hochmeisterkirche.
14. Der Berliner Westen vom 14. September 1921.
15. Der Berliner Westen vom 26. September 1925.
16. Brief des GKR Wilmersdorf an das Konsistorium, September 1926.
17. Festordnung zur Einweihung des Gemeindehauses vom 15. September 1929, Archiv Hochmeisterkirche.
18. Aus einem Interview mit Frau Anna Hopp, Archiv Hochmeisterkirche.
19. Lebenslauf Dr. Arthur Böhme, Evangelisches Zentralarchiv, Akte 6173.
Fortsetzung: Die Dreißiger Jahre